Kassandra:
Da war ihre tief verkrochene Scheu – ihre Furcht vor Berührung, die sie niemals verletzte, bis sie die Berührung wirklich hatte, das Andere spürte und so erfuhr, wie mächtig die Lust gewesen war, die sie schon lange in sich trug.

Kassandra:
Sie hatte noch nicht genug gesehen. Sie will nicht sprechen. Alle Eitelkeiten sind ausgebrannt, verödet die Stellen in ihrem Gemüt – wo sie noch wachsen könnten.

Kassandra:
Jetzt kann sie brauchen, was sie lebenslang geübt: Ihre Gefühle durch Denken besiegen. Die Liebe früher; jetzt die Angst. Die sprang sie an.

Kassandra:
Sie Seherin! Priamos-Tochter. Wie lange blind gegen das Naheliegende: Dass sie zu wählen hatte zwischen ihrer Herkunft und ihrem Amt.

Kassandra:
Ihr fror bis in die letzte Faser ihres Körpers. Er schien zu wissen, wie ihr zumute war - und fragte leise: „Weißt du schon?“ Da schlug ihr warmes Blut ins Gesicht. Er kam. Er kam durch. Er war bedrückt. Man hatte ihn hingehalten. Er brachte Hoffnung. Doch sie hoffte nicht mehr. Sie sah, ahnte, glaubte, wusste… Es war Krieg!

Kassandra:
Weiß, weiß leuchtete ihr Körper. Er berührte ihn nicht. Er berührte sie. Nichts regte sich. Sie weinte. Sie hatte es nicht geschafft. Trostlos gingen sie auseinander. Er weinte. Sie hatten sich geschafft. Sie hatte keine Tränen. Sie sah, ahnte, hoffte, glaubte, wusste, dass es keinen Trost gab. Troja! Sie waren noch nicht fertig miteinander. Troja! Ein jeder verstand den anderen. Wie soll man den feinen Unterschied treffen, wenn nicht sehend, ahnend, hoffend, glaubend, wissend.

Kassandra:
Sie sei leicht gewesen, sagte er später. Und ahnte viel. Nein, es habe ihm nichts ausgemacht, sagte er später. Und hoffte viel. Er schwor, sie nie allein zu lassen. Und glaubte viel. Er hat den Schwur gehalten. Und sie sah viel. Zu letzt hatte sie ihn davon frei gesprochen. Und sie wusste viel.

Kassandra:
Er kam. Sie sah. Er saß bei ihr. Sie ahnte. Er streichelte die Luft über ihrem Kopf. Sie hoffte. Sie liebte ihn mehr als ihr Leben. Er lebte nicht mit ihr. Sie glaubte. Er kam wie ein Schatten, pralles Leben gab ihm Farbe, Blut; auch Lust. Sie wusste.
Kassandra:
Es war vorbei. Am Abend, auf der Mauer, der Abschied. Sie ahnte. Er wich nicht von ihrer Seite. Sie hoffte. Sicher war, dass das Licht fahl war. Sie glaubte. Sicher ist es eine Täuschung, dass das Licht über ihrem Gesicht fahl war. Sie wusste. Sie sah, was zu sagen war.


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Lea - Winterschmetterling