Ein Tagebuch-Fragment
04. Januar
Ich bin gezeichnet. Mitten auf der Stirn. Man sieht es mir an!
Warum siehst du es nicht?
Ach, ich. -- Ich bringe wieder alles durcheinander!
Es steht mir nicht auf der Stirn geschrieben. Es ist tief in mir. Es kehrt sich von Zeit zu Zeit nach außen.
Wie sollst du es sehen, wenn du nichts davon weißt. Ich dir nicht davon erzähle? Dir nichts sage?
Und lasse ich es dich sehen.
Ich schleudere es dir lautstark ins Gesicht. Schweigend.
14. Januar
Wozu weben sich die Kinder – die Ungeborenen, die Fehlgeborenen, die Geborenen, die Toten – ineinander?
Gerade jetzt. Für das Lebende zu leben! Für das eine Kind. Es schreit mich an. Es wimmert unter Tränen, um dann, wenn ich mich zu ihm beuge, mir seine Faust in meinen Magen zu stoßen...
Wie soll es wissen, dass es mich verletzt. Ich sitze neben ihm. Ich schweige. Ich leide. Ich halte es fest. Kraftlos die Arme…
Und ich weiß: Es kann gerade nicht anders, als um sich zu schlagen. Warum kann keiner es lassen? Dort in diesem geschützten Raum?
Ich kann: Schlag um dich, tritt zu. Ich halte es aus. Für dich.
Ich bin die Mutter. Du bist das Kind.
29. März
Ja -- es braucht Raum und Zeit. Das Weinen, das Sehnen, das Vermissen, das Traurigsein. Mal nimmt es viel Raum, mal braucht es nur kurze Zeit. Immer ein wenig anders. Immer neu. Und nach drei Jahren.
Es gibt sie, die anderen Tage. Sie kommen mir öfter unter. Sie bleiben länger. Sie tun gut.
Wo sind diese Tage heute?
12. April
Die Wohnung gehört mir. Und Hildegard Knef singt. Gut hörbar durch alle Räume... Nach 8 Stunden die Flur geräumt. Das ging mal wie auf Knopfdruck. Die innere Uhr schrillt nicht. Stift fiel aus der Hand, Rechner fuhr runter, den Betrieb verlassen... Die Wohnung gehört mir. Nur mir. Wie wunderbar... Das Kind ist noch mal los. Termin bei seiner Kopfdoktorin... Bald ist sie weg. Ganz weg. Raus aus dem Haus. Eigene Wohnung. Da muss ich noch achten, wie es ist... Die Wohnung gehört mir. Gerade nur mir. Also genießen. Und gleich schallt es: Für mich wird’s rote Rosen regnen. Dafür müssen die Regler hoch...
14. April
Jesus Christus spricht: Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen.
Joh 16,22
22. April
Um vieles komme ich nicht herum: Geburtstag Sturz in der Duschkabine Krankenschein Trauertag --- Geburstag
25. April
tief aus der erde durch meinen körper mächtig bahnen sich meine gefühle verzweiflung trostlos hoffnungsvoll mutlos ihren weg
wurzeln im himmel tief in der erde
eine verbindung
25. Mai
Es zieht seine Bahnen. Umspannt alles. Ich darf mich nicht im Kleinsten verlieren. Und komme aus meinem Sein nicht heraus. Überfüllt, überflutet, überfrachtet...
Ja --- die Duschkabine steht noch. Ja --- das Kind geht seinen Weg.
Worte, sind in die Welt gesetzt. Worte,
Sei leise, sei still, sei ruhig, sei geduldig – du mein Kind…
Immer diese vielen Verletztheiten. Alles wird. Alles wird Besser. Doch nie wieder gut. Und anders. Das ist es. Darauf will ich mich einlassen...
17. Juni
Manche Tage sind zäh. Sie kleben an mir. Und ich komme nicht dahinter. Kann es einfach mit dem Kopf nicht fassen...
Heute ist Aussicht auf etwas Schönes. Haare ab, alles wieder chic kurz. Und mein Friseur erwischte mich auf dem falschen Fuß. Als wir so fachsimpelten, was denn wie werden soll, sage ich, dass ich nun ja sieben Wochen drüber sei. Sieben Wochen seit seinem letzten Schnitt an meinem Haar. Und er: Da solltest du mal zum Arzt gehen.
Mir schossen Tränen in die Augen. Ich erst mal hoch vom Sitz, raus, tief Luft geholt. Falsches Thema --- den wunden Punkt getroffen.
Hatte mächtig zu tun, mich wieder in den Griff zu bekommen und diesen zu halten.
Konnte keinem seiner Worte folgen. So schnell war er noch nie fertig mit mir. Ich noch nie so günstig auf und davon...
Und in mir brodelt es, es tobt und irgendwann dann der Sturzbach. Ich lass es fließen.
Zu Hause die Stöcke geschnappt und ab ins Holz. Und los. In den Weg getreten, den Boden zerteilt, das Gras abgeschlagen.
Und als die Birke zum Umarmen erreicht ist, saß dort im Schatten ein Paar --- mit Säugling.
Das muss doch nicht sein! Warum heute?
[...]
DU VERLETZTHEIT DU ICH BIN DRÜBER WEG ICH WILL NICHT MEHR ICH WILL NICHT DAS DU MICH TRIFFST ICH DICH IMMER WIEDER TREFFE
[...]
Egal, ich mach weiter:
Birke umarmt. Quer über die Wiese hin zum Labyrinth. Stöcke abgelegt. Der Verwicklung gefolgt. In der Spur gerannt. Endpunkt erreicht:
Gewissheit. Ruhe. Die Mitte ist die Mitte.
Der Weg nach Hause ein Aufnehmen von Rhythmus. Klang der sich in mir breit macht…Aus der Erde über die Stöcke in meinen Körper.
Beim Tiergehege eine Frau. Ich sehe sie. Ich kenne ihr Gesicht. Bei ihr ein Mädchen. Gute drei Jahre alt. Ich verstehe es nicht und weiß doch: Wir sind uns 2 x begegnet. Ungeboren. Zu früh auf dieser Welt im Kinderwagen. Nun schulterlang, sich lockend blondes Haar und Knopfaugen - tief blau. Ganz kurz der Gedanke: Das ist mein Kind…
Ab da ist es gut. Und ich kann lächeln. Beide anlächeln. Und alle anderen auch…
Version: 24.06.2010 Galeria am Domhof Zwickau, Lesung der runden Geburtstagskinder 2010 Speicherort: F:\2010.06.24_emotionaler Abriss_Tagebuch-Fragement.doc
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